(Gastartikel) 5.600 Meter Meereshöhe, für Extrembergsteiger ist das keine Herausforderung. Für Normaltouristen in halbwegs gesunder körperlicher Verfassung allerdings schon – wer sich dennoch aufmacht zum Trekking ins Basislager des Mount Everest, wird mit Eindrücken belohnt, die für den Rest des Lebens bleiben.
Der höchste Punkt, auf dem ich mich in den letzten Jahren befunden hatte, bevor ich nach Nepal flog, war die Punta Rocca auf der Marmolata in den Dolomiten, Meereshöhe etwa 3.300 Meter. Rauf mit der Gondel, runter mit den Skiern. Auf 3.300 Metern ist der Druck der Sauerstoffteilchen in der Luft nur noch etwa zwei Drittel so hoch wie auf Meereshöhe, aber jeder kommt damit zurecht.
Auf knapp 5.600 Metern beträgt dieser Druck nicht mal mehr die Hälfte – und es wird enorm schwer, die Lungen ausreichend mit dem lebenswichtigen Gas zu füllen. Es ist eine irrige Annahme, dass der Sauerstoffanteil mit der Höhe abnimmt – allein der Druck geht zurück. Die Auswirkungen aber sind die gleichen.
Zum ersten Mal spüre ich das am Ende des zweiten Trekkingtages, der uns nach Namche Bazar, die Sherpa-Hauptstadt, gebracht hat. „Uns“, das sind mein Bruder und ich mit acht weiteren Touristen aus Deutschland, ein Däne ist auch dabei, dann unsere drei Sirdar (die Bergführer aus dem Khumbu, der Everest-Region) sowie unsere sechs Träger. Namche liegt 3.440 Meter hoch, und schon hier ist jeder über die Träger froh, die uns die großen Trekkingrucksäcke tagsüber abnehmen.
Wir Ausländer sind völlig erschöpft nach dem letzten Anstieg, der uns auf kürzester Distanz fast 600 Höhenmeter beschert hat. Am nächsten Tag geht es zur Akklimatisation 400 weitere Meter hinauf, abends zurück nach Namche – und danach kommen ja erst die richtigen Höhen.
Schon anderntags wartet das Etappenziel am Nachmittag nach wie üblich etwa sechs Stunden Gehzeit, mit ausreichend Pausen, auf 3.850 Meter – das weltberühmte Buddhisten-Kloster Tengpoche. Vor dem letzten Anstieg, wieder 450 Höhenmeter, haben wir locker 25 Grad, oben ist es eiskalt und wir befinden uns mitten in den Wolken. So viel hatte man vorher vom großartigen Panorama gehört, das hier herrscht; das malerisch gelegene Kloster mit Blick auf die Südwand des Lhotse, die Ama Dablam und die Gipfelpyramide des Everest.
Und nun: nichts. Alles grau in grau. Erst auf dem Rückweg werden wir sehen, wie toll es hier tatsächlich ist. Als Entschädigung beobachten wir eine Andacht der Mönche, die stundenlang ihr Mantra summen. Hin und wieder geht ein Novize durch die Reihen und füllt die Schalen der Anderen mit Tee und Yakbutter.
Zwei weitere Tage bleibt das Wetter sehr schlecht, wir trotten im kalten Oktoberregen durch die Hochtäler, und immer, wenn die Wolkenwände für einen kurzen Augenblick eine nicht identifizierbare Felswand in der Umgebung freigeben, klickt jeder mit der Kamera wild in der Gegend herum. Felsen, naja, aber besser als nichts in einer Gegend, in der die höchsten Berge der Welt stehen, unbemerkt von uns. Und dann, dann zeigt sich des sechsten Tages endlich der Gipfel der eisgepanzerten Ama Dablam (6.856m) im Abendlicht, die Temperatur sinkt innerhalb von Minuten auf null Grad – das sicherste Zeichen für gutes Wetter, wie Daila, unser erster Sirdar, uns versichert. Er soll Recht behalten.
Am nächsten Morgen: wir sind inzwischen in Dingboche auf 4.340 Meter, ist keine Wolke am Himmel, und weiter hinauf führt uns unser Weg heute über eine Hochalm, die von den bizarr geformten Sechstausendern Cholatse und Taboche einerseits und dem 5.745 Meter hohen Pokalde andererseits eingerahmt wird. Vorher, an der Abzweigung zur Hochalm, an einer Buddha-Stupa, drehe ich mich um und sehe den Gipfel des 8.463 Meter hohen Makalu in nicht einmal 30 Kilometern Entfernung – der fünfthöchste Berg der Erde. Unter einem in der dünnen Luft viel näher erscheinenden Halbmond, der plastisch im dunkelblauen Himmel schwimmt, geht es an den Fuß des Thukla-Passes auf 4.600 Meter.
Mittagspause: Die Terrasse der Lodge platzt aus allen Nähten, es sind mindestens 200 Leute aus aller Welt hier – nur mein Bruder fehlt. Wo bleibt er? Eine Stunde nach den anderen kriecht er förmlich die letzten Meter hoch zum Gasthaus, er ist nicht ansprechbar: die Höhenkrankheit hat ihn voll erwischt, wahrscheinlich hat er viel zu wenig getrunken. Er schläft eine Stunde dort, am Fuß des Passes, dessen Scheitel auf 4.830 Metern liegt. Dann muss er sich entscheiden: hinauf – oder hinunter? Geht es ihm schlechter, muss er umdrehen, weil es zu gefährlich wird. Doch er kommt wieder ein wenig auf die Beine, quält sich die letzten Kilometer hinauf bis Lobuche, wo wir übernachten. Hier, auf 4.910 Höhenmetern, kann sich der Körper kaum noch regenerieren – außer durch viel Schlaf. Er schläft 14 Stunden am Stück und ist am nächsten Morgen tatsächlich recht fit.
Heute wird die 5.000-Meter-Marke fallen. Und zwar deutlich.
Zunächst geht es in flachem Anstieg einige Kilometer nach Gorak Shep, doch die Luft wird immer dünner. Permanent einen Fuß vor den anderen zu setzen, entspringt nur noch reinster Willensleistung, und erst nach Stunden rückt Gorak Shep nahe. Ein Dorf, sprichwörtlich am Ende der Welt, 5.140 Meter über dem Meer, dahinter kommt nur noch das Basislager des Mount Everest, der letzte Außenposten der Zivilisation. Das Panorama raubt einem den letzten verbliebenen Atem: rechterhand die Westwand des Nuptse (7.861m), links davon der Vorberg des Everest, direkt vor uns die herrliche Pyramide des Pumo Ri (7.161m).
Hundemüde kriechen wir mehr in die Lodge, als dass wir laufen, es gibt ein Mittagessen – und alles, was bis jetzt war, wird vom anbrechenden Nachmittag noch in den Schatten gestellt werden. Fast 500 Höhenmeter warten noch auf uns.
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