UFO-Catcher, Gärten und ein Kinderfahrrad: Kyoto in einem Semester
Kyoto ist eine Stadt, die mindestens viertausend Gesichter hat – ich habe es zwar nicht geschafft, alle davon zu sehen, doch im Rahmen eines Studienaufenthaltes war es ein paar Freunden und mir vergönnt, dort im Sommer 2010 ein Semester zu verbringen.
Ein Freund von mir verkündete bei der Ankunft in seiner Gastfamilie, er habe vor, am Ende dieser Zeit alle Tempel und Schreine der Stadt besichtigt zu haben – worauf der Großvater der Gastfamilie lachte, bis ihm die Tränen kamen.
Tatsächlich kann man wahrscheinlich Jahrzehnte in Kyoto verbringen und trotzdem niemals alles gesehen haben. Und gleichzeitig kann man sich in wenigen Monaten so viel anschauen, dass es unmöglich ist, alles zu berichten.
Beim Stichwort Japan denkt man eigentlich immer sofort an riesige Millionenstädte und Züge, die mit Lichtgeschwindigkeit übers Land rasen – an eines aber denkt man nicht: ans gute alte Fahrrad. Selbiges haben wir nach der ersten Woche in Tokyo, in wir gezwungenermaßen unser gesamtes Geld für Bahnfahrten verbraten mussten, nach Ankunft in Kyoto sofort zu unserem Lieblingsmittel der Fortbewegung erkoren, um ganz studentisch jeden Yen sparen zu können, der nur zu sparen war. Ich bin in den gesamten dreieinhalb Monaten, die ich in Kyoto gelebt habe, nur ein einziges Mal U-Bahn gefahren – und das war auf der Abreise, als es wieder zurück nach Hause ging, und ich mein geliehenes Fahrrad bei der Gastfamilie zurücklassen musste.
Kyoto ist eine ideale Stadt fürs Fahrradfahren: Der Großteil der Stadt liegt in einem weitestgehend ebenen Talkessel, nur wer Richtung Stadtrand fährt, muss sich auf hügeligere Gefilde einstellen. Die vor über tausend Jahren nach chinesischem Vorbild angelegten Hauptstraßen punkten mit breiten Bürgersteigen und auch in den engen Gassen dazwischen kam es nie zu einer brenzligen Situation. Obwohl die Stadt immerhin anderthalb Millionen Einwohner hat, ist man in Nullnix mit dem Fahrrad überall – und bekommt unterwegs auch noch einiges mehr zu sehen als nur Tempel und Schreine, was das Bild von Kyoto irgendwie echter erscheinen lässt.
Wer nicht das Glück hat, von seiner Gastfamilie ein (wenn in meinem Fall auch für zehnjährige Kinder konzipiertes) Fahrrad geliehen zu bekommen, der kann für knapp dreißig Euro ein gebrauchtes beim Fahrradhändler kaufen. Je nachdem, wie lange man sich in der Stadt aufhält, ist das eine lohnenswerte Investition – denn die Preise für die U-Bahnfahrten beginnen bei 2,30€ und steigen, je länger die zurückgelegte Strecke ist. Allerdings waren wir aber auch ein bisschen härter im Nehmen – und sind den ganzen Hochsommer über bei 35 Grad im Schatten und gefühlten 4000% oder mehr Luftfeuchtigkeit durch die Stadt getourt. Zugegebenermaßen ist das wahrscheinlich Geschmackssache.
Als wir in Kyoto ankamen, hatte die Kirschblüte gerade begonnen – die erste japanische „Tradition“, die wir mit Feuer und Flamme übernahmen, war deshalb das Hanami. Hanami bedeutet in etwa „Blumenschau“ und funktioniert folgendermaßen: Man geht in einen Park, legt eine Decke unter einen Sakura-Baum und isst und trinkt, bis man umfällt.
Die Japaner zelebrieren das in großen Maße, weswegen es nicht ungewöhnlich ist, vom zaghaften Aufblühen der ersten Kirschblüte bis zum Zeitpunkt, da die letzten Blütenblätter gefallen sind, am hellichten Tage ganze Horden von Betrunkenen durch die Parks taumeln zu sehen. Die Kirschblüte lässt sich natürlich auch nüchtern genießen – das wissen auch die Japaner. Sehenswürdigkeiten und Orte, an denen Kirschbäume wachsen, sind deswegen zur Sakura-Zeit maßlos überlaufen.
Der Philosophenweg
Wer Japan bereist, kann Menschenmengen aber ohnehin nur durch exzessives Zuhausebleiben umgehen – deshalb ließen wir es uns nicht nehmen, als eine der ersten Amtshandlungen in Kyoto den berühmten Philosophenweg zur Kirschblüte zu beschreiten.
Der etwa zwei Kilometer lange Spazierweg läuft entlang eines schmalen Kanals zwischen dem Ginkakuji und dem Nanzenji im Nordosten der Stadt.
Normalerweise dürfte man den zu anderen Jahreszeiten wahrscheinlich eher unscheinbaren Weg in dreißig Minuten abgewandert haben – wenn die Kirschbäume blühen, ist das allerdings ob der gewaltigen Menschenmenge schier unmöglich.
Daneben sollte man sich die Tempel entlang des Pfades auch nicht entgehen lassen. Der Ginkakuji und der Nanzenji sind wohl die berühmtesten, mein ganz persönlicher Favorit allerdings ist der Eikando Zenrinji.
Der Eikando
Der Eikando ist der Haupttempel eines Zweiges der buddhistischen Jodo Shu Sekte und wurde hier im neunten Jahrhundert gegründet. Der Tempel schmiegt sich in die Wälder der Higashiyama-Berge und ist deswegen besonders berühmt für seine wohl atemberaubende Laubfärbung im Herbst.
Was mich am Eikando immer besonders beeindruckt hat, ist die Ruhe, die er ausstrahlt.
Die verschiedenen Hallen verstecken sich an den Berghängen hinter den Bäumen und müssen einzeln erwandert werden.
Auf dem Rundgang durch das Tempelgelände gibt es viel zu entdecken, was vor allem deshalb leicht fällt, weil sich hier die Touristen aus irgendeinem Grund nicht so zusammenrotten wie im Ginkakuji oder im Nanzenji.
Der Eikando ist deshalb mein absoluter Geheimtipp.
Gewöhnunsbedürftig bleibt allein die Restaurierung der Wandbemalungen in der Halle des Amida, die den berühmten zur Seite blickenden Buddha enthält: Irgendwer hat sich hier an enorm grellen Farben vergriffen, weswegen das Ganze sich wenig geheimnisvoll in eine Disneyland-Aura hüllt.
Wer es schafft, nicht zur Decke zu schauen, kann stattdessen eine der berühmtesten Buddha-Statuen Japans bewundern.
Die Kirschblüte
Damit auch im Frühling und im Sommer niemand, der nach Kyoto reist, auf Laub und Baumfärbung verzichten muss, haben die Japaner vorgesorgt.
Zur Kirschblütenzeit kann man deshalb in mehreren Tempeln ein sogenanntes „Light Up“ bestaunen. Dahinter versteckt sich ein Spektakel, das man sich nicht entgehen lassen sollte: Zu dieser Jahreszeit nämlich werden die Tempelgärten auch nach Einbruch der Dunkelheit geöffnet und dann kunstvoll ausgeleuchtet und lichttechnisch in Szene gesetzt.
Besonders beim Kiyomizudera ist das – den schlechten Wortwitz beiseite – ein echtes Highlight. Auf dem Weg hierhin sind wir allerdings auf unseren Rädern ganz schön ins Schwitzen geraten, denn auch der Kiyomizudera liegt an den Higashiyama-Bergen.
Der Kiyomizudera mit seiner hochgelegenen Plattform, die seit jeher Touristen mit Höhenangst herausfordert, ist natürlich auch am Tag ziemlich beeindruckend – trotzdem ist selber Schuld, wer ihn zum Light Up nicht (mindestens) noch einmal besichtigt.
Im Anschluss an den Besuch lässt sich in dem traditionell japanisch gestalteten Viertel das eine oder andere Souvenir besorgen.
Shopping
Aber Tempel und Schreine beiseite – in Kyoto gibt es noch wesentlich mehr zu sehen. Und zu kaufen. Denn bei japanisch angehauchten Souvenirs ist das Sortiment Kyotos noch lange nicht erschöpft. Wer finanzielles Kamikaze begehen will, sollte zum Beispiel unbedingt nach Teramachi fahren.
Die überdachten Shopping-Arkaden treiben Kauflustige in den Wahnsinn.
Wir zum Beispiel dürften wohl jeden Yen, den wir mit unserer ausgiebigen Fahrradfahrerei sparen konnten, hier postwendend jubelnd wieder ausgegeben haben. Sofern man das Glück hat, Kleidergröße 38 und kleiner zu tragen, kann man seine Besitztümer hier sogar in Sachen japanische Modetrends aufstocken.
Ansonsten locken UFO-Catcher, Vintage-Buchläden, kleine Shops voller japanischem Kitsch und Accessoires, Restaurants, Cafés, Bars und, und, und.
Unser persönlicher Lieblingsladen war Hanjiro , ein Laden der sich nicht direkt in Teramachi befindet, sondern in einer Seitengasse. (Die Adresse müsste Mimatsu Kaikan, Nakano-cho 583-2, Sinkyogoku Dori, Shijo-agaru sein.)
Durch einen langen, mit Aquarien in Uralt-Badewannen dekorierten Flur geht es in einen versteckten Laden mit neun Meter hohen Decken und einer Inneneinrichtung, bei der uns jedes Mal die Kinnlade bis in den Keller geklappt ist.
Auch hier dominieren winzige Kleidergrößen, aber allein das Design des Ladens lohnt einen Besuch.
Neben Teramachi liegt Kawaramachi am Kamo-Fluss, und auch hier findet sich verstärkt die jungen Leute ein, denn in den schmalen Gassen verstecken sich Kneipen und Bars zuhauf. Weggehen in Japan ist allerdings verflucht teuer – weswegen wir unsere neuen japanischen Freunde bald für die Idee begeistert hatten, statt in einer teuren Bar zu hocken, sich doch einfach ans Flussufer zu setzen. Und da waren wir nicht die einzigen: In warmen und trockenen Nächten sitzt hier gelegentlich das ganze Jungvolk Kyotos mit einem Bier am Flussufer, was ziemlich gemütlich ist.
In Kyoto werden die japanische Geschichte und das junge, moderne Gesicht des Landes vereint. Die Menschen sind offener und weniger distanziert als in Tokyo, und gelegentlich kommt man sich vor wie auf dem Land – in einer Stadt, die genau so viele Einwohner hat wie München. Kyoto in dreieinhalb Monaten zu entdecken ist schön – Kyoto in zwei Wochen zu entdecken ist eine Herausforderung.
Mein persönlicher Tipp an alle Kyoto-Reisenden ist es deshalb, sich vorher genau zu überlegen, was man sehen will. Und dabei möglichst nicht nur einen Plan aufzustellen, der es vorsieht, verschwitzt von Tempel zu Tempel zu hetzen und drei Fotos zu schießen, bevor es zum nächsten Schrein losgeht. Man kann eben nicht alles sehen – da sollte wenigstens die Auswahl stimmen. Orte wie der Ninnaji mit seinen traumhaften Wandmalereien und der Tojien mit seinen Shogun-Statuen und dem beeindruckenden Garten zum Beispiel sind oft weniger von Touristen überlaufen, weil die sich am Steingarten des Ryoanji zusammenklüngeln oder in Horden über das Gelände des Kinkakuji marschieren.
Wer nach Kyoto reist, um Japan zu entdecken, der sollte sich davor hüten, sich ein einseitiges Bild zusammenzusetzen. Denn genauso wenig wie die japanische Kultur besteht auch Kyoto nicht nur aus Tempeln und Schreinen, sondern hat eine moderne Seite, wie eben Kawaramachi und Teramachi, wo es mindestens ebenso viel zu sehen gibt – dafür muss man nicht nach Tokyo fahren.
Und schlussendlich gilt: Wer nach Japan fährt, aber nicht nach Kyoto, dem ist nun wirklich nicht mehr zu helfen.
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